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Die Grenzen des Menschen im alten Äon wurden durch Gott gesetzt; im neuen Äon, Thelema, setzt sich jeder Mensch seine Grenzen selbst, bewusst oder unbewusst.

Wir reden von altem und neuem Äon. Aber wie genau wird das alte vom neuen Äon unterschieden? Gewöhnlich, sehr ungenau, eigentlich nur zwei verschiedene Wörter für die gleiche Sache.

Wie beantwortest DU die Frage:

Was unterscheidet das alte Äon vom neuen Äon?
Woran erkennst
du, dass etwas, was auch immer, altäonisch oder neuäonisch ist?

Wenn man im Liber Legis sucht, findet man viele Antworten. Eine lautet z.B.:

III. 49. "Ich bin in einem geheimen, vierfachen Wort die Blasphemie gegen alle Götter der Menschen."

Laut Crowley lautet das geheime, vierfache Wort: Tue was Du willst.

Hört sich einfach an, ist aber nicht ganz so einfach:

  • Tue: Damit ist auf Handeln verwiesen. Im alten Äon galt erleben durch beobachten, Bewusstheit, meditieren, kontemplieren, nicht-tun und - natürlich - in Einsamkeit als Weg zur Erleuchtung. Das neue Äon stellt dem die Tat gegenüber.
  • Du: Ja, DU, niemand und nichts anderes. Keine Autoritäten, keine Gesetze, keine Götter, Teufel oder sonstigen Geister, keine Wahrheiten, keine Gebote - DU.
  • Willst: Das alte Äon lehrte das nicht-Wollen, den Weg der weißen Wolke, Hingebung und Demut als Weg zur Erleuchtung. Wollen bedeutet: ein Ziel bestimmen und verwirklichen.

Warum ist das "geheim"? Weil man es nicht dadurch verstehen kann, dass man es hört. Was "Tun", "Du" und "Wollen" bedeutet, versteht man erst, wenn man es anwendet.

  • Man setzt sich der Unsicherheit einer eigenen und nur selbst, ohne Sicherheit und doppelten Boden, getroffenen Entscheidung aus, die man dennoch selbst verantwortet.
  • Man setzt sich ein Ziel, mit dessen Erreichen oder Verfehlen das Urteil gesprochen ist ("Erfolg ist Dein Beweis.").
  • Man handelt entgegen allen Widerständen, ohne Verzagen, um das Ziel zu erreichen und bis es erreicht ist. "Aufgeben" ist ein unbekanntes Wort.

Warum ist das "die Blasphemie gegen alle Götter der Menschen"? Weil alle altäonischen Götter sich anmaßen unsere Entscheidungsfreiheit einzuschränken. Sie werden als mächtiger, wissender und besser als Menschen vorgestellt. Sie bestimmen, was wahr, schön und gut ist. Die christliche Inquisition bringt das treffend auf den Punkt: Neo-Satanist ist jeder, der aus eigener Macht will, tut und handelt, der nicht auf die Macht Gottes vertraut. Das gilt selbst für gottlose Religionen wie den Buddhismus, der auch vorschreibt was die Wahrheit ist.

Damit kommen wir zum zweiten Teil:

Du tust immer, was du willst. Du kannst gar nicht anders. Jeder Mensch tut immer was er will - er merkt es nur nicht. Er sucht die Schuld woanders, macht die Umstände verantwortlich oder sucht sich eine Autorität, eine Wahrheit oder einen Gott als Rechtfertigung dafür, warum er so handelt wie er handelt. Wer das tut belügt sich selbst und merkt nicht, dass er selbst so entschieden hat.

"Tue was Du willst" ist keine Aufforderung, sondern eine Erkenntnis. Klar tue ich was ich will, ich kann gar nicht anders. Aber wenn das so ist, dann wird es Zeit, dass du herausfindest was DU willst - und es tust.

Erst hier wird die Sache kompliziert und ziemlich "geheim." Ist das, was du willst vielleicht das, was Deine Umgebung, dein Arbeitgeber, Deine Eltern, Dein Partner, die Gesellschaft, Deine Vorurteile Dir als DEIN Wollen vorgeben? Ist das, was du willst, wirklich das, was DU wollen würdest, wenn du dich von diesen ganzen Fremdeinflüssen befreit hättest?

Das ist die Frage. Wie kann sie beantwortet werden?

Damit du diese Frage beantworten kannst, hat das Liber Legis nicht nur diesen einen Vers, "Tue was Du willst", sondern 220 Verse. Ein Netz von Versen, in dem du dich nur verheddern und verirren kannst. Wenn du dich finden willst, Deinen Willen finden willst, dann kannst du dich auf das Liber L vel Legis einlassen. Dadurch wirst du immer wieder Provokationen und Sinnzusammenbrüche erleben, die du nur lösen kannst, wenn du sie als Provokationen zu eigener Sinnsuche nutzt. Am Ende entnebelt sich dann, was DU willst. Beweis, die vierte Prüfung: III, 67. "Durch die vierte, ultimate Funken des innersten Feuers."

Natürlich kannst du das nicht allein tun. Allein findest du zu schnell Antworten. Deshalb: "Als Brüder kämpft" - aber auch das, nur wenn DU es so willst.

 

Copyright 2007 by Michael D. Eschner
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