tanzender Stern

Leben ist eine Harmonie aus Extremen. Leben ist die Intensität der Empfindungen: "Wer einen tanzenden Stern gebären will, muss noch Chaos in sich haben." (Nietzsche)

Das Wort Thelema kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie schöpferischer Wille.

Wie sich dieser schöpferische Wille erfahren und selbst erschaffen lässt - eröffnet sich im Dialog mit dem Liber L vel Legis, dem Gründungstext von Thelema.

Das Liber L vel Legis ist ein Text, der nicht nur wie ein Kunstwerk aussieht und klingt, sondern auch so wirkt: Der Text führt dich hinein in eine Welt, in der du dich selbst entdecken, verstehen und selbstbestimmt erschaffen kannst.

"Thelema ist ein zeitloses Muster des Denkens, Fühlens und Handelns, das in jedem Äon in einer spezifischen Form und Bezeichnung auftritt."

Eine der letzten Erscheinungsformen dieses Musters war die Gnosis vor etwa 2000 Jahren:

Die Gnosis (griech. "Erkenntnis") war eine religiös-philosophische Bewegung im 2. und 3. Jahrhundert.

Sie bekannte sich weitgehend zum damaligen, noch jungen Christentum. Basierte aber - deshalb Gnosis - auf Wissen statt auf Glauben"

Die wesentlichen Elemente der Lehre der Gnosis

  • die Seele des Menschen ist ein Funken des göttlichen Geistes
  • der Mensch kann durch die Wiedererweckung des göttlichen Funkens in seine göttliche Heimat zurückkehren
  • es geht um Erkenntnis - wie dieser Funke zu wecken sei - nicht um Glauben

Weitere Elemente der gnostischen Lehre, z.B. der Gut-Böse Dualismus, waren zeitbedingt und sind hier irrelevant. Die Gnosis wurde vom erstarkenden Christentum als Häresie verfolgt, die Gnostiker physisch wie psychisch vernichtet.

"Mit Thelema erhebt die alte christliche Häresie nun wieder ihr Haupt ... : 

  • Thelema bedeutet Freiheit: Tue deinen Willen - "Du hast kein Recht als deinen Willen zu tun".
  • Thelema bedeutet Liebe: Die Menschen in ihren höchsten Möglichkeiten erkennen und zu diesen herausfordern.
  • Thelema bedeutet Leben als Kreativität und Ekstase: über-sich-hinaus-gehen."

Thelemiten sind Menschen, die einen dieser Wege, ihren Weg, gehen.

Woher kommt Thelema?

"Die "Vaterfigur" von Thelema ist Aleister Crowley.
Aleister Crowley (1875-1947) ist einer der berühmtesten und berüchtigsten Gestalten des 20. Jahrhunderts: Engländer, Mystiker, Magier, Philosoph, Schachspieler, Bergsteiger und vieles mehr.

Im Jahre 1904 führte ihn seine Hochzeitsreise nach Kairo. Dort teilte ihm seine Frau Rose mit, dass ein Botschafter der Götter ihn sprechen wolle. Crowley fand das angemessen und stand zur angegebenen Zeit, mit Papier und Stift ausgerüstet, bereit."

Am 8. 9. und 10. April, jeweils von 12.00 bis 13.00 Uhr, wurde Crowley von Aiwass, dem Gesandten des altägyptischen Gottes Hoor-paar-kraat, ein Text diktiert: Das Liber L vel Legis - die Grundlage von Thelema.

Crowley ist der Autor des Liber Legis, da er das Diktat niedergeschrieben hat. Es gibt Thelemiten, die Crowley deshalb zu DEM Propheten und Heiligen stilisiert haben. Die Thelema Society tut das nicht. Jeder Mensch ist Prophet und heilig XXX und nur insofern auch Crowley. XXX

Was ist das Liber L vel Legis?

Das Buch besteht aus 220 Versen, welche in drei Kapitel unterteilt sind. Es verkündet ein Neues Äon, den Anbruch eines neuen Zeitalters der Menschheit. Kernaussagen des Buches sind:

"Jeder Mann und jede Frau ist ein Stern"
"Tue was Du willst sei das ganze Gesetz."
"Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen."
"Der Tod, o Mensch, ist dir verboten."

In jedem der drei Kapitel des Buches spricht Aiwass, der Botschafter der Götter, für eine Gottheit: 

Nuit - die Göttin,
welche der unendliche Raum und
die unendlichen Sterne darin ist:
Sie steht für Natur und Raum,
die mögliche Außenwelt.
 

Hadit - der Gott,
welcher der unendlich kleine Punkt in
unserem innersten Selbst ist:
Er steht für Psyche und Zeit,
die mögliche Innenwelt.
 

Ra-Hoor-Khuit - das gekrönte und erobernde Kind,
Horus, der initiierende Gott des Horus Äons:
Er steht für den Lebens- und Weltprozess,
die Situation, in der wir je sind.
 

Das ist merkwürdig in einer aufgeklärten Zeit ... Götter?

Ja, aber Götter anderer Art - Götter des Horus-Äons. Das Liber Legis stellt sich selbst zu Beginn des Buches als "die Offenbarung der Gesellschaft des Himmels" vor. Es versteht sich als die Selbstoffenbarung der Welt, die Offenbarung einer durch und durch göttlichen (auch persönlich ansprechbaren) Welt. Diese Ansprechbarkeit der Welt lässt sich - klassischerweise - als Gottheit beschreiben.

Dank der Aufklärung ist heute vielen Menschen schon verständlich: Es gibt kein metaphysisch göttliches Wissen, keine Zentralinstanz, die alles überblicken könnte, keine ewigen Tatsachen und keine absoluten Wahrheiten - Gott ist tot.

Das Liber Legis versteht sich denn auch nicht als Offenbarung von Wahrheit, sondern als Offenbarung von Leben als Kunstwerk: Ein Weg, der ins Werk gesetzte Wahrheit ist. "Für diese Wahrheit gilt das Diktum Nietzsches: Wahrheit ist Interpretation - ein Satz, der auf sich selbst anzuwenden ist. Ergänzend ist hinzuzufügen: eine Interpretation, die gelebt wird."

Das Liber Legis drückt das so aus: I. 56. "Alle Worte sind heilig und alle Propheten wahr".

Wie können wir, wenn alle Worte heilig und alle Propheten wahr sind, Orientierung, Sinn und Handlungsfähigkeit gewinnen?

"Die "Founding Fathers" der Vereinigten Staaten von Amerika formulierten einen sehr starken Satz der Begründung für die Freiheitsrechte des Menschen: "We hold these truths to be self-evident" ("Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich"). Es gab und gibt keinen weiteren Grund: Diese Wahrheiten als selbstverständlich anzusetzen, war und ist eine freie Entscheidung. Dennoch war es keine willkürliche Entscheidung (Dezisionismus), denn die Freiheitsrechte des Menschen sind notwendiger Bestandteil jeder immanent kohärenten Weltinterpretation - und andere Weltinterpretationen sind sinnlos, weil ohne Orientierungskapazität."

Mit Worten des Liber L vel Legis: "Tue was du willst sei das ganze Gesetz". Wir müssen selbst über unser Leben entscheiden - und selbst dafür müssen wir uns selbst entscheiden.
Auch was inhaltlich im Liber Legis steht, was die einzelnen Verse bedeuten - muss jeder für sich entscheiden.

Es gibt kein Warum und kein Weil! Wie auch, wenn Wahrheit Interpretation ist? Jedes "Weil" wird erst auf der Grundlage einer Perspektive des Weltverstehens möglich. Für diese kann man sich nur ohne Wenn und Aber entscheiden: Abgründig.

II. 27: In mir ist große Gefahr; denn wer diese Runen nicht versteht, wird einen großen Fehler machen. 'Weil' heißt die Grube, in die er niederfallen wird, und dort wird er mit den Hunden der Vernunft umkommen.
I. 28: Jetzt ein Fluch auf 'Weil' und seine Sippe!
II. 29: Mag 'Weil' für immer verflucht sein!
II. 30: Wenn Wille hält und schreit 'Warum' und dadurch 'Weil' beruft, dann steht der Wille still & tut so nichts.
II. 31: Fragt Macht warum, dann ist Macht Schwäche.
II. 32: Auch Vernunft ist eine Lüge; denn es gibt einen Faktor unendlich & unbekannt; & all ihre Worte sind schief.
II. 33: Genug von 'Weil'! Er sei verdammt wie ein Hund!
II. 34: Aber du, o mein Volk, erhebe dich & erwache!

Wohin gehen Thelemiten?

Thelemiten erschaffen ihren Weg im Gehen. Das Ziel ist die Gegend, in die der Weg führt. Erst beim Gehen deines Weges mit dem Liber Legis fängst du an, die Verse zu verstehen, denn sie entfalten Wirkung. Es beginnt ein gegenseitiger Veränderungsprozess: Das Buch verändert dich genauso wie du, durch dein Verstehen, das Buch veränderst. Dein Weg wird ein gemeinsamer Weg mit den Göttern: Das Zeichen der Götter ist es - zu gehen.

Leben ist eine Harmonie aus Extremen. Leben ist die Intensität der Empfindungen: "Wer einen tanzenden Stern gebären will, muss noch Chaos in sich haben." (Nietzsche) 

Leben, wirklich leben, als tanzender Stern leben, ist wichtiger als der "Sinn des Lebens":
genau das - ist der Sinn des Lebens.
Lebe!

Exerpt des noch unveröffentlichten Artikels von Michael D. Eschner: Was ist Thelema? Zwischenüberschriften und alle gekennzeichneten Zitate entstammen diesem Text.