Vertrauter

Für die Ägypter ging es darum, diese Welt bewohnbar zu machen und den Menschen in ihr zu beheimaten, er hatte keine andere Heimat. Unsere „heutige Erde“, als Pool von Ressourcen, war für ihn nicht vorstellbar.

Was hat Thelema mit Ägypten zu tun?

Thelemiten in aller Welt können sehr unterschiedliche, manchmal sogar sich widersprechende Weltanschauungen und damit auch Lebensweisen haben. Allen gemeinsam ist jedoch der Bezug auf das Liber L vel Legis und die damit in Zusammenhang stehende Stele der Offenbarung.

Das Liber L vel Legis wiederum und natürlich die Stele sind tief im 'Ägyptischen' verwurzelt. Allerdings … der Titel ist lateinisch, das Wort des Gesetzes ist griechisch … Worin genau bestehen die Bezüge auf Ägypten?

Sarkophag des Anchefenchons
nebst Stele (1878)

Die bekanntesten sind:

  • Im Liber L entschleiern oder offenbaren sich die ägyptischen Götter Nuit, Hadit und Ra-Hoor-Khuit.

  • Das Liber L vel Legis wurde in Kairo gechannelt.

  • Sowohl das Channeling als auch die Verbindung zur Stele kam auf recht kuriose Weise zustande: Nachdem Crowleys Frau ihm in tranceähnlichem Zustand gesagt hatte, Horus, also eine ägyptische Gottheit, wolle ihn sprechen, suchten beide das „Boulak“-Museum auf (das damals eigentlich schon anders hieß). Hier fand Crowley eine Stele mit der Ausstellungsnummer 666, auf der Nuit, die Himmelsgöttin, Re-Harachte oder Ra-Hoor-Khuit als falkenköpfiger Horus und die geflügelte Sonne, Behedeti, also Hadit abgebildet waren. Dazu muss man wissen, dass die Zahl 666 seit seiner Jugend für Crowley selbst stand: Er bezeichnete sich als das Tier 666 der Johannes-Offenbarung. Dies überzeugte ihn davon, seine Frau ernst zu nehmen. Er begann daraufhin mit Horus-Anrufungen, die schließlich zu den Channelings des Liber L führten.

  • Im Liber L selbst gibt es sehr viele Verse, die auf das alte Ägypten verweisen. Z. B. (gleich am Anfang von Nuit): Hilf mir o Kriegherr von Theben (also der auf der Stele abgebildete Ankh-af-na-Khonsu) bei meiner Entschleierung vor den Kindern der Menschen. Sei du Hadit mein geheimes Zentrum, mein Herz und meine Zunge (im alten Ägypten zentrale Symbole für freier Wille, Gewissen, Verstand und Wort). Siehe, es ist durch Aiwass den Gesandten von Hoor-Paar-Krat (Harpokrates, die andere Seite von Horus) offenbart. Das Khabs ist in dem Khu, nicht das Khu in dem Khabs (Khabs und Khu: alte ägyptische Begriffe, die mit Stern und Geist/Seele übersetzt werden).

Die Wieder-holung Ägyptens

Diese Verknüpfung des Liber L mit Ägypten zeigt eine wichtige Beziehung zwischen Ägypten und Thelema, also dem Gesetz des Neuen Äons, an, aber: Warum? Was kann und soll uns diese Beziehung zeigen? Warum spricht es nicht beispielsweise durch ganz neue Götter mit noch nie gehörten Namen, wie es einem neuen Äon doch anstünde?

Das Studium von Martin Heideggers Schriften lieferte interessante Schlüssel. Beispielsweise spielt bei ihm der Begriff der „Lichtung“ eine große Rolle.

'Lichtung' geht auf das Zeitwort 'lichten' zurück: den Wald licht, d.h. leicht und frei machen, indem er ausgeholzt wird. Die Offenheit der Lichtung ist das Ergebnis eines Öffnens bzw. Lichtens. Das Wort enthält entsprechend sowohl den Bezug auf den Raum bzw. die Räumlichkeit als auch auf die Zeit bzw. Zeitlichkeit. (…) Erst in der Lichtung als gelichteter Mitte des Waldes kann das Licht einfallen (Die Lichtung)

Die Lichtung steht also für einen offenen zugänglichen Raum, aber auch für den Prozess des Offenbarens und Erschließens. Die Lichtung zeigt uns etwas, das wir zuvor nicht gesehen haben, Licht wird ins Dunkel gebracht.

Durch den Bezug auf Ägypten und durch den Bezug auf ein neues Zeitalter, das etwa zur Zeit des Channelings anbricht, stellt uns das Liber L vel Legis in eine Lichtung von etwa 7000 Jahren. Die Phänomene, die in und durch die Lichtung sichtbar werden, sind also für das Verständnis von Thelema wesentlich.

  • Wir sind, was wir erinnern: Wir sind die Geschichte(n), die wir über unsere Vergangenheit - und damit über uns - erzählen. Mit der Beziehung zu Ägypten lichtet das Liber L einen Zeitraum von etwa 3000 vor Chr. bis zur Gegenwart. Die „Vergangenheit“ ist nicht vergangen und vorbei, sondern hat für die Gegenwart eine tragende Rolle. Unsere Erfahrungen bringen Struktur in die Ereignisse und befähigen uns zu Entscheidungen und zum Handeln. Stelle dir vor, du gehst in die Küche und willst etwas zum Abendessen kochen, plötzlich ist jede Erinnerung weg. Du weißt nicht mehr, was du kochen wolltest, auch nicht mehr, für wen, aber im Grunde ist das auch egal, weil du auch nicht mehr weißt, wofür dieser Kasten mit den runden Platten darauf gut sein soll, genau genommen weißt du gar nicht, wo du dich befindest und wer du überhaupt bist …Zurück zur Lichtung von 7000 Jahren: Wir sind nicht nur, was wir erinnern,

  • Wir sind auch, was wir entwerfen: Wir sind die Erzählungen, die wir über unsere Zukunft - und damit über uns - geben. Als Offenbarung des neuen Äons erhebt das L für die nächsten rund 2000 Jahre Anspruch auf Gültigkeit. Dann wird „ein anderer Prophet sich erheben und frisches Fieber von den Himmeln bringen, eine andere Frau wird die Lust & Verehrung der Schlange erwecken; eine andere Seele von Gott und Tier wird sich in dem Priester des Erdballs vermischen; ein anderes Opfer wird das Grabmal färben; ein anderer König wird herrschen; und dem Falkenköpfigen Mystischen Herrn wird nicht länger Segen zufließen!“
    (LLL, III.34)
     
    Heißt das, wir sollen Ägypten für das Neue Äon kopieren? Zur Vergangenheit (die „gute alte Zeit“) zurück kehren? Wir interpretieren das anders: Das Liber L erinnert uns daran, das alte Ägypten zu wieder-holen – Wieder-holung im Sinne Heideggers: sie holt das, was gewesen ist – also das was immer noch ist und nicht etwa war - wieder hervor, nicht in distanzierter Erinnerung, sondern als Teil von uns, der uns bewusst wird und der uns durch das Wissen darum in der Gegenwart anders wählen lässt. Umgangssprachlich nennt man das: aus der Vergangenheit lernen. Das bedeutet, dass wir durch das Verstehen von Ägypten für das neue Äon lernen können.

Was zeigt uns Ägypten für das neue Äon?

Es gibt eine Reihe interessanter Verbindungen zwischen Ägypten und Thelema, z. B.:

  • Den Symbolismus der Vereinigung, der in Ägypten sehr zentral ist: Jeder Pharao wieder-holt bei seiner Thronbesteigung die Vereinigung der beiden Länder Ober- und Unterägypten und damit der Antagonisten Seth und Horus. Das Interessante daran ist, dass der Antagonist, der „Andere“ nicht ausgegrenzt und verteufelt, sondern integriert wird. Auch im Liber L ist die Vereinigung zentral: I. 29. „Denn ich bin geteilt um der Liebe willen, für die Möglichkeit der Vereinigung.“

  • Den Symbolismus der Pyramiden: die Macht eines Willens, der Berge versetzen kann, eine Brücke zwischen Himmel und Erde, Ewigkeit und Unsterblichkeit und:

  • Überhaupt die zentrale Bedeutung des Todes bzw. der Überwindung des körperlichen Todes und Erlangung der Unsterblichkeit: Diese zentrale Bedeutung des Todes meint aber keine Verneinung des Lebens und Verherrlichung des Todes, sondern dass ein Mensch angesichts des Todes (bei Heidegger das 'Vorlaufen zum Tode') und der möglichen Unsterblichkeit ganz andere Wahlen trifft, als wenn er den Tod verdrängt, vielleicht auch oft erst überhaupt Entscheidungen trifft, anstatt sie anderen zu überlassen.

Von den vielen möglichen Bezügen will ich einen herausgreifen, den ich persönlich besonders spannend finde und der Thelema wesentlich charakterisiert

MaatDie Maat

Dies nicht, weil Crowley die Hypothese aufgestellt hat, dass die Maat Herrscherin des nächsten Äons sein wird, sondern weil sie die Göttin der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Ordnung, des Gesetzes ist. Das Liber L vel Legis, das „“Buch L des Gesetzes“ oder wie es sich selbst im Text nennt, „Buch des Gesetzes“, verkündet ein einziges Gesetz:

Tu was du willst, sei das Ganze des Gesetzes, Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen.

Die Bedeutung dieses Gesetzes entspricht in frappierender Weise der Bedeutung der Maat im alten Ägypten.

Die Maat ist also die Göttin der Wahrheit, Gerechtigkeit, Ordnung, sowohl kosmische als auch soziale, sie ist das Prinzip, das die Menschen zur Gemeinschaft verbindet oder wie der Ägyptologe Jan Assman es nennt, die konnektive Gerechtigkeit, also die verbindende Gerechtigkeit. (Alle Zitate aus: Assmann, Jan: Ägypten. Eine Sinngeschichte. Hanser, München 1996)

Für den Ägypter ruhte die Gemeinschaft auf den drei wesentlichen Säulen des Zueinander-Sprechens, Aufeinander-Hörens, Füreinander-Handelns. Das „Füreinanderhandeln setzt Aneinander-Denken voraus: Der Ägypter stellt „den eingedenkenden Gerechten“ versus den Habgierigen, „der nur an sich denkt und kein Gedächtnis braucht.

Versuchen wir uns das ein bisschen genauer vorzustellen: „Erinnerung und Füreinander-Handeln gehören zusammen“, stehen in einer wechselseitigen Beziehung. „Daher bedeutet Vergessen Handlungsunfähigkeit, ägyptisch 'Trägheit'.“ Ohne Vergangenheit gibt es keinen Grund zu handeln, außer vielleicht instinktmäßiges Verhalten. Handlungen basieren auf Erinnerungen – wir erinnern uns an das Beispiel in der Küche – auf der anderen Seite führt Nichthandeln zu Vergessen, „der Untätige verliert das Gestern aus dem Auge“. (Diese Sicht ist vielleicht etwas fremder, wird aber deutlicher, wenn man versucht, sich Extremfälle von Dahinvegetieren und Konsumieren vorzustellen.)

Die Maat steht also für die Ordnung, durch die „garantiert ist, dass auch heute gilt, was gestern galt, dass einer zu dem steht, was er gestern gesagt und getan hat, dass er reagiert auf das, was andere gestern gesagt und getan haben.

Wenn du willst, mache ein kleines Gedankenexperiment dazu:

EinsamkeitSchließe die Augen … und versetze dich in die Vorstellung, dass alle Menschen, zu denen du eine Beziehung hast, die dir etwas bedeuten, die dich vielleicht dahin gebracht haben, wo du heute bist, alle diese Menschen kennen dich nicht mehr. Dein/e Partner/in wendet sich befremdet ab, wenn du ihn/sie zärtlich am Arm nimmst, du kommst nach Hause und deine eigenen Kinder und deine eigenen Eltern fragen: Was machen Sie denn hier? Du gehst zur Arbeit und bekommst die Antwort, dass momentan keine Mitarbeiter gesucht werden, dies begegnet dir an allen Stationen deines Lebens und jeden Tag aufs Neue, egal wo du versuchst, neue Wurzeln zu setzen, bis du schließlich alleine, irr und wirr durch dunkle, nasse Straßen streichst …

Wir können also das, was wir über den Zusammenhang von Gedächtnis und Handeln und besonders das Füreinander-Handeln gesagt haben auch so formulieren: „Das Gedächtnis macht den Menschen zum Mitmenschen, befähigt ihn zu einem Leben in Gemeinschaft.

Die Ägypter gingen aber nicht davon aus, dass die Maat sich selbstregulativ entwickelt oder mit moralischen Appellen errichtet werden könnte, sondern davon, dass es ein nur mit regulierender Gewalt aufrecht zu erhaltendes System sei. Jedoch sind die meisten sozialen Normen, die zum Zueinander-Sprechen, Aufeinander-Hören, Füreinander-Handeln gehören, vor irdischen Gerichten nicht einklagbar – und das ist vermutlich auch ganz gut so. Man stelle sich solche Szenen vor Gericht vor: „Nie hörst du mir zu!“ „Wir leben komplett aneinander vorbei!“ Dieses Handeln kann nicht materiell und mit dem Verstand eingeschätzt und abgerechnet werden.

Für die Ägypter sorgten zwei Faktoren für die Gerechtigkeit auf Erden: die Möglichkeit der Unsterblichkeit der Seele und die Existenz einer Instanz, die lohnend und strafend über das Schicksal der Seele entscheidet. Diese Instanz ist das Totengericht. Für den Ägypter waren die Unsterblichkeit und das künftige Gericht nichts, worauf er hoffte oder was er vermutete, sondern er war sich dessen gewiss. Und nur auf der Basis dieser unerschütterlichen Gewissheit konnte Gemeinschaft als gerechte Gemeinschaft funktionieren.

Die Gewissheit des Totengerichts erzieht den Ägypter zu einem Sozialwesen, zum Mitmenschen.

Um das richtig zu verstehen, ist es auch wichtig, sich einen weiteren Aspekt klar zumachen: Das alte Ägypten hatte nicht – wie die Erlösungsreligionen – eine Zwei-Welten-Lehre, bei der es im wesentlichen darauf ankommt, in dieser Welt sündenfrei zu leben, damit man endlich aus diesem Jammertal erlöst und im ewigen Frieden im Jenseits leben kann.

Dem Ägypter ging es darum, diese Welt bewohnbar zu machen und den Menschen in ihr zu beheimaten, er hat keine andere Heimat. Der Gedanke der Inversion ist den klassischen ägyptischen Texten fremd. Das heißt, der Ägypter konnte sich nicht damit trösten, dass wer hier in Armut, Einsamkeit, Not, aber gottesfürchtig lebte, im Jenseits das genaue Gegenteil erfahren würde. Der Ägypter lebt nach dem Tode so, wie er sich erinnert und wie er von den anderen erinnert wird.

Einer lebt, wenn der andere ihn leitet

Im alten Ägypten wusste man, dass der Mensch nur gemeinsam leben kann. Der Mensch ist nicht nur fähig zur Gemeinschaft, sondern er ist auf Gemeinschaft angewiesen. Ein altes ägyptisches Sprichwort lautete:

Einer lebt, wenn der andere ihn leitet.

Und das war auch so gemeint - nicht: Man lebt besser, netter, einfacher mit anderen, sondern ohne gegenseitige Unterstützung und Orientierung sind die Menschen nicht lebensfähig. Als Mensch leben können heißt, anderen das Zusammenleben mit sich zu ermöglichen.

Seba-u mut